Die astrologische Reflexion einer archaischen Signatur
Leider bekommen wir in der Schule nur einen ganz
armseligen Begriff von dem Reichtum
und der ungeheueren Leichtigkeit
der griechischen Mythologie. All jene Gestaltungskraft,
die der moderne Mensch auf Wissenschaft und Technik verwendet,
hat der antike seiner
Mythologie gewidmet.
Carl Gustav Jung
Die Diskussion um den Kleinplaneten Chiron hat mittlerweile eine erstaunlich
naive Einseitigkeit erreicht, die sich weder mit dem Archetypus, den Chiron
eigentlich repräsentiert, noch mit den antiken Quellen und Mythologien
vereinbaren lässt.1 Nachdem Melanie Reinhart ihn zum verletzten Heiler
stilisierte,2 ist er durch die neueste Monographie der inflationär werdenden
Chiron-Literatur zur innerpsychischen Stimme eines fiktiven inneren Lehrers,3 gar zu einem Seelenführer,4 geworden. Während für die griechische und
römische Antike Hermes-Merkur die Rolle des Psychopomps ausfüllte, war ihnen
die Stimme des Gewissens ein palladisches Numen, personifiziert insbesondere
in der kopfgeborenen Tochter des Zeus, Pallas Athene, der römischen Minerva oder christlichen Sophia. Erst ein dekadentes, römisches
Sublimationsbedürfnis verwandelte den affektgeleiteten, triebhaften und wild-
archaischen Kentauren Chiron in die Gestalt, welche die moderne Astrologie
gerne in ihm sehen möchte: den kultivierten Philanthropen, Phytotherapeuten
und Menschenfreund, der in stoischer und bewundernswerter Gelassenheit die
ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen erduldet. Erst in dieser
Verfremdung, die kaum noch etwas mit Chirons Ursprung zu tun hat, taugt er
uns Nachgeborenen als eine Ikone, die hell am astrologischen Himmel des Jahrtausendwechsels
strahlt, um dem heutigen, zunehmend orientierungslos werdenden Menschen als
Projektionsfläche eigener traumatischer Befindlichkeit zu dienen.