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Montag, 6. Juni 2022

Jupiters schmutziges Gesicht


Dogmatismus, Fundamentalismus und Terrorismus

Fataler Pfeil – dein Pfad, solang er dauert.
Doch in den Ritzen waltet Gott und lauert
.
Jorge Luis Borges

Jupiter astrologisch

Auch Astrolog*innen neigen dazu, zu idealisieren, wenn vom Planeten Jupiter die Rede ist, denn gerne denkt (wünscht) man sich ihn positiv. Die Mythologie der antiken Gottheiten Jupiter (oder Zeus) ist jedoch ambivalent. Sie berichtet von seiner Illoyalität, seinen Intrigen, seinem Verrat und seiner Treulosigkeit Göttern und Menschen, insbesondere aber den von ihm gezeugten und geliebten Helden gegenüber. Das astrologische Symbol für den Planeten Jupiter setzt sich aus dem mit einem Kreuz verbundenen Halbkreis zusammen. Das Kreuz symbolisiert die Materie, das Gebundensein an die physisch-irdische Welt mit all ihren Aufgaben und Verpflichtungen. Der Halbkreis überragt dieses Kreuz; er repräsentiert eine geistige Dimension mit ihrer Hoffnung auf Verbesserung und Zukunft: Der über dem Horizont angeordnete Halbkreis geistiger Expansion befreit von der Gebundenheit an das irdisch-materielle Dasein. Auch die Ambivalenz, halb Tier und halb Mensch zu sein, die sich im Wesen des Schützen durch die Kentauren-Symbolik äußert, in dessen Zeichen Jupiter herrscht, deutet diesen Zusammenhang an: der Pfeil des Kentauren erhebt sich über das Materielle hinaus zu geistigen Höhenflügen. Auf die germanisch-nordische Mythologie bezogen deutet sich in diesem Zeichen der an der Weltenesche hängende Óðinn schon an – das Kreuz als Weltenbaum, der Halbkreis als Streben nach universeller Erkenntnis.

Mit Jupiter im Schützen herrscht statt Erdenschwere [...] intuitives Vertrauen, daß es hinter den Erscheinungsbildern der sichtbaren Welt einen sinnvoll waltenden und geordneten Zusammenhang gibt.1

Montag, 30. Mai 2022

Das Antlitz Chirons


Die astrologische Reflexion einer archaischen Signatur

Leider bekommen wir in der Schule nur einen ganz
armseligen Begriff von dem Reichtum und der ungeheueren Leichtigkeit
der griechischen Mythologie. All jene Gestaltungskraft,
die der moderne Mensch auf Wissenschaft und Technik verwendet,
hat der antike seiner Mythologie gewidmet
.
Carl Gustav Jung

Die Diskussion um den Kleinplaneten Chiron hat mittlerweile eine erstaunlich naive Einseitigkeit erreicht, die sich weder mit dem Archetypus, den Chiron eigentlich repräsentiert, noch mit den antiken Quellen und Mythologien vereinbaren lässt.1 Nachdem Melanie Reinhart ihn zum verletzten Heiler stilisierte,2 ist er durch die neueste Monographie der inflationär werdenden Chiron-Literatur zur innerpsychischen Stimme eines fiktiven inneren Lehrers,3 gar zu einem Seelenführer,4 geworden. Während für die griechische und römische Antike Hermes-Merkur die Rolle des Psychopomps ausfüllte, war ihnen die Stimme des Gewissens ein palladisches Numen, personifiziert insbesondere in der kopfgeborenen Tochter des Zeus, Pallas Athene, der römischen Minerva oder christlichen Sophia. Erst ein dekadentes, römisches Sublimationsbedürfnis verwandelte den affektgeleiteten, triebhaften und wild- archaischen Kentauren Chiron in die Gestalt, welche die moderne Astrologie gerne in ihm sehen möchte: den kultivierten Philanthropen, Phytotherapeuten und Menschenfreund, der in stoischer und bewundernswerter Gelassenheit die ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen erduldet. Erst in dieser Verfremdung, die kaum noch etwas mit Chirons Ursprung zu tun hat, taugt er uns Nachgeborenen als eine Ikone, die hell am astrologischen Himmel des Jahrtausendwechsels strahlt, um dem heutigen, zunehmend orientierungslos werdenden Menschen als Projektionsfläche eigener traumatischer Befindlichkeit zu dienen.

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Lichtträger in dunkler Zeit


Jupiter und Chiron als Herrscher im Schützen

Wir sollten erkennen, dass unser Leben eine Phase im Prozess der menschlichen Entwicklung darstellt.
Wenn wir uns mit unseren persönlichen Problemen beschäftigen, entgeht unserem Bewusstsein oft,
dass deren eigentlicher Hintergrund unsere Aufgabe ist, die entwicklungsgemäßen Herausforderungen
unserer Zeit auf konkrete und individuelle Weise in den Brennpunkt zu bringen
.
Dane Rudhyar

Richard Tarnas Einwand gegen die voreilige Benennung des Planeten Uranus belegt eindrucksvoll, wie wichtig profunde mythologische Kenntnisse für Astrologen sind. [1] In einer Zeit, in der die Astrologie mit einer beinahe inflationär anmutenden Erweiterung ihrer Deutungsfaktoren konfrontiert wird, deren symbolischer Umfang und analoge Bedeutung noch unzureichend erforscht sind, scheint eine Rückbesinnung auf ihr mythologisches Fundament geraten. Ignoriert man die Erfahrung der Fehlbenennung des Planeten Uranus, könnten in Zukunft ähnliche Diskussionen um die Berechtigung der Namen der Kleinplaneten folgen. Im Moment basiert Chirons symbolische Bedeutung auf zwei Vorschlägen: einerseits auf seinem Bahnverlauf zwischen Saturn und Uranus, aufgefasst als Pontifax zwischen der körperlich-materiellen Sphäre Saturns und der geistig-immateriellen des Uranus. Andererseits hat sich die Diskussion auf Chirons Rolle als verletzter Heiler konzentriert. [2]
Über beide Auffassungen läßt sich trefflich streiten, vor allem aber hinsichtlich der Reduktion des mythologischen Chirons auf seine Verwundung und deren Konsequenzen für seinen Lebenslauf. Die Antwort auf die Frage, welchem Tierkreiszeichen Chiron zugeordnet werden muss, wurde bisher noch nicht entschieden, [3] obwohl die mit Chiron verbundene Symbolik, Mythologie und Ikonographie unzweideutig ist. Befragt man zu diesem Zweck die mythischen Erzählungen, stößt man auf eine Beziehung zwischen Zeus (Jupiter) und Chiron, die die zentralen Aspekte der Chiron-Mythologie darstellt: Chiron als Alter ego des Zeus, seine an Zeus gebundene Biographie und seine mit Zeus vergleichbare Funktion als Schamane, Lehrer und Wissenschaftler sowie die Aufgabe des Kentauren im Prometheus-Mythos, in dem Zeus und Chiron erneut zusammentreffen. [4] Zweifel an der Nähe Chirons zu Zeus-Jupiter und dem von ihm beherrschten Zeichen lassen sich, insbesondere mit Blick auf das alljährlich neu erfahrbare Phänomen der Schützequalität, leicht ausräumen. Für ihre Legitimation und für ihr Selbstverständnis benötigt die Astrologie eine genaue, und vor allem aber eine seriöse Kenntnis ihrer phänomenologischen und mythologischen Grundlagen; gleichzeitig gebührt ihr dabei das Verdienst, die Überlieferung der Mythen in lebendiger Anschaulichkeit zu garantieren. [5]