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Montag, 30. Mai 2022

Das Antlitz Chirons


Die astrologische Reflexion einer archaischen Signatur

Leider bekommen wir in der Schule nur einen ganz
armseligen Begriff von dem Reichtum und der ungeheueren Leichtigkeit
der griechischen Mythologie. All jene Gestaltungskraft,
die der moderne Mensch auf Wissenschaft und Technik verwendet,
hat der antike seiner Mythologie gewidmet
.
Carl Gustav Jung

Die Diskussion um den Kleinplaneten Chiron hat mittlerweile eine erstaunlich naive Einseitigkeit erreicht, die sich weder mit dem Archetypus, den Chiron eigentlich repräsentiert, noch mit den antiken Quellen und Mythologien vereinbaren lässt.1 Nachdem Melanie Reinhart ihn zum verletzten Heiler stilisierte,2 ist er durch die neueste Monographie der inflationär werdenden Chiron-Literatur zur innerpsychischen Stimme eines fiktiven inneren Lehrers,3 gar zu einem Seelenführer,4 geworden. Während für die griechische und römische Antike Hermes-Merkur die Rolle des Psychopomps ausfüllte, war ihnen die Stimme des Gewissens ein palladisches Numen, personifiziert insbesondere in der kopfgeborenen Tochter des Zeus, Pallas Athene, der römischen Minerva oder christlichen Sophia. Erst ein dekadentes, römisches Sublimationsbedürfnis verwandelte den affektgeleiteten, triebhaften und wild- archaischen Kentauren Chiron in die Gestalt, welche die moderne Astrologie gerne in ihm sehen möchte: den kultivierten Philanthropen, Phytotherapeuten und Menschenfreund, der in stoischer und bewundernswerter Gelassenheit die ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen erduldet. Erst in dieser Verfremdung, die kaum noch etwas mit Chirons Ursprung zu tun hat, taugt er uns Nachgeborenen als eine Ikone, die hell am astrologischen Himmel des Jahrtausendwechsels strahlt, um dem heutigen, zunehmend orientierungslos werdenden Menschen als Projektionsfläche eigener traumatischer Befindlichkeit zu dienen.