Sonntag, 18. August 2024

Kassandra, Odysseus und der Heilige Geist


Die Psychologie in der Mythologie der Antike

Die Welt der griechischen Antike und eines großen Teils außereuropäischer Kulturen ist unberechenbar von ergreifenden Atmosphären durchzogen. Diesem Gedanken zu folgen dienen die mythischen Protagonisten Odysseus und Kassandra. Meine Studie Odysseus, Kassandra und der Heilige Geist greift die Thematik dieser leiblich spürbaren Atmosphären auf, deren Autorität, wie Hermann Schmitz es nennt, für jeden den Gipfel unbedingten Ernstes erreicht. Der Gipfel des unbedingten Ernstes ist die beinahe charismatische Autorität des Göttlichen, der sich der Mensch, trotz seines Vermögens sich zu distanzieren und Kritik zu üben, bewusst unterwirft.
Den Menschen ergreifende Gefühle treten als bestimmte Personen, als Götter, in Erscheinung. Zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen werden quasi in der Luft liegende Atmosphären als Gefühle erfahren. In der Auseinandersetzung des Menschen mit diesen Atmosphären können sich diese zu Personen verdichten. Das Numinose, das Rudolf Otto beschrieben hat, ist eine solche göttliche Atmosphäre für jeden, dem sie widerfährt und zugleich ein typisches Vorgefühl der göttlichen Gefühle in ihrer unermesslichen Vielgestaltigkeit.
Unverkennbar in der Flut der Fantasy- und Science Fiction-Literatur oder in zahlreichen Computerspielen, die ihre Inspiration eindeutig der Mythologie verdanken, zeigt sich ein unstillbarer Hunger nach Bildern und Symbolen, die die Sinndiskussion der rezenten westlichen Kulturen schon lange nicht mehr befriedigen kann. Die moderne kapitalistische Ethik mit ihrer einseitig rationalistischen Weltauffassung, der der moderne Mensch unterworfen ist, hat inzwischen dazu geführt, dass diesem kaum noch eigene Bilder aus dem Unbewussten entgegenwachsen. Programmiertes Heldentum ist gefragt, damit berechenbare und vorausplanbare Identifikationen entstehen können, die, medial gesteuert, zu normiertem Erleben und Erfahren führen. Ein reduziertes Angebot an Geschichten und Bildern, die die aus dem kindlichen Unbewussten strömenden Symbole individuell mit Leben erfüllen, und dem heranreifenden Menschen eine angemessene Realitätsprüfung erlauben, steht eine wachsende Flut von medial konstruiertem Bildmaterial gegenüber, das jegliche Phantasie im Keim erstickt.
Sache des Mythos ist die Darstellung, ein Hörbarmachen atmosphärischer Qualitäten. Mythos ist Aussage, ist verlässlicher Bericht über das im Atmosphärischen Gespürte, Erblickte und Gehörte, das räumlich ausgegossen in die menschliche Erfahrung hereinbricht. Mythische Erzählungen sind immer ein hinweisendes Sprechen, ein Sprechen, das helfen soll, in der Wirklichkeit einen bestimmten Gott als solchen zu erkennen, deshalb wird erzählt, wie er anderen begegnet ist.
Mythen beruhen auf der Erfahrung der Wirkung göttlicher Kräfte auf den Menschen, und auf der Nutzbarmachung der damit verbundenen Energien durch ihn. Sie zeugen vom Gespräch mit den Göttern. Begegnungen dieser Art erlebt der Mensch als emotional ergreifend und numinos; die Auseinandersetzung mit seiner Ergriffenheit führt den sinnsuchenden Menschen zur mythischen Gestaltung und unterscheidet diese von rein dichterischer Phantasie und Fiktion. Das hinweisende Sprechen der Mythen hat allerdings konjunktivischen Charakter – es verweist allein auf die jeweils mögliche eigene Erfahrung mit dem Göttlichen. Nur gemessen an solchen Erfahrungen gewinnen mythische Erzählungen sinn- und identitätsstiftende Glaubwürdigkeit und Legitimität, stabilisieren sie die Weltanschauung einer Gemeinschaft. Den Mythos richtig aufgefasst bedeutet allerdings das Zugeständnis, dass die Götter Voraussetzung, nicht nur Gegenstand der mythischen Rede sind. Übersinnliche Erfahrungen müssen erst gemacht werden, Göttern muss man erst begegnen, bevor von ihnen erzählt werden kann. Der Mythos endet da, wo unmittelbare atmosphärische Erfahrungen nicht mehr stattfinden, wo eine dogmatische Theologie nach dem An-Sich-Sein mythischer Protagonisten fragt, wo starre Theorie an die Stelle dynamischer Erfahrung tritt.

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Montag, 6. Juni 2022

Jupiters schmutziges Gesicht


Dogmatismus, Fundamentalismus und Terrorismus

Fataler Pfeil – dein Pfad, solang er dauert.
Doch in den Ritzen waltet Gott und lauert
.
Jorge Luis Borges

Jupiter astrologisch

Auch Astrolog*innen neigen dazu, zu idealisieren, wenn vom Planeten Jupiter die Rede ist, denn gerne denkt (wünscht) man sich ihn positiv. Die Mythologie der antiken Gottheiten Jupiter (oder Zeus) ist jedoch ambivalent. Sie berichtet von seiner Illoyalität, seinen Intrigen, seinem Verrat und seiner Treulosigkeit Göttern und Menschen, insbesondere aber den von ihm gezeugten und geliebten Helden gegenüber. Das astrologische Symbol für den Planeten Jupiter setzt sich aus dem mit einem Kreuz verbundenen Halbkreis zusammen. Das Kreuz symbolisiert die Materie, das Gebundensein an die physisch-irdische Welt mit all ihren Aufgaben und Verpflichtungen. Der Halbkreis überragt dieses Kreuz; er repräsentiert eine geistige Dimension mit ihrer Hoffnung auf Verbesserung und Zukunft: Der über dem Horizont angeordnete Halbkreis geistiger Expansion befreit von der Gebundenheit an das irdisch-materielle Dasein. Auch die Ambivalenz, halb Tier und halb Mensch zu sein, die sich im Wesen des Schützen durch die Kentauren-Symbolik äußert, in dessen Zeichen Jupiter herrscht, deutet diesen Zusammenhang an: der Pfeil des Kentauren erhebt sich über das Materielle hinaus zu geistigen Höhenflügen. Auf die germanisch-nordische Mythologie bezogen deutet sich in diesem Zeichen der an der Weltenesche hängende Óðinn schon an – das Kreuz als Weltenbaum, der Halbkreis als Streben nach universeller Erkenntnis.

Mit Jupiter im Schützen herrscht statt Erdenschwere [...] intuitives Vertrauen, daß es hinter den Erscheinungsbildern der sichtbaren Welt einen sinnvoll waltenden und geordneten Zusammenhang gibt.1

Montag, 30. Mai 2022

Das Antlitz Chirons


Die astrologische Reflexion einer archaischen Signatur

Leider bekommen wir in der Schule nur einen ganz
armseligen Begriff von dem Reichtum und der ungeheueren Leichtigkeit
der griechischen Mythologie. All jene Gestaltungskraft,
die der moderne Mensch auf Wissenschaft und Technik verwendet,
hat der antike seiner Mythologie gewidmet
.
Carl Gustav Jung

Die Diskussion um den Kleinplaneten Chiron hat mittlerweile eine erstaunlich naive Einseitigkeit erreicht, die sich weder mit dem Archetypus, den Chiron eigentlich repräsentiert, noch mit den antiken Quellen und Mythologien vereinbaren lässt.1 Nachdem Melanie Reinhart ihn zum verletzten Heiler stilisierte,2 ist er durch die neueste Monographie der inflationär werdenden Chiron-Literatur zur innerpsychischen Stimme eines fiktiven inneren Lehrers,3 gar zu einem Seelenführer,4 geworden. Während für die griechische und römische Antike Hermes-Merkur die Rolle des Psychopomps ausfüllte, war ihnen die Stimme des Gewissens ein palladisches Numen, personifiziert insbesondere in der kopfgeborenen Tochter des Zeus, Pallas Athene, der römischen Minerva oder christlichen Sophia. Erst ein dekadentes, römisches Sublimationsbedürfnis verwandelte den affektgeleiteten, triebhaften und wild- archaischen Kentauren Chiron in die Gestalt, welche die moderne Astrologie gerne in ihm sehen möchte: den kultivierten Philanthropen, Phytotherapeuten und Menschenfreund, der in stoischer und bewundernswerter Gelassenheit die ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen erduldet. Erst in dieser Verfremdung, die kaum noch etwas mit Chirons Ursprung zu tun hat, taugt er uns Nachgeborenen als eine Ikone, die hell am astrologischen Himmel des Jahrtausendwechsels strahlt, um dem heutigen, zunehmend orientierungslos werdenden Menschen als Projektionsfläche eigener traumatischer Befindlichkeit zu dienen.

Donnerstag, 19. Mai 2022

Abstieg in die Unterwelt


Pluto in Mythologie, Psychologie und Astrologie

Wenn Freund Tod kommt, ist bisher noch jeder gegangen.
Ruben Gonzalez

Die symbolische Bedeutung dessen, was die moderne Astrologie unter einer plutonischen Wesenskraft (Thomas Ring) versteht, fasste Johann Wolfgang Goethe in einem Vers zusammen:

Und solang ́ du das nicht hast;
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde
.

Die Ambivalenz Plutos, der untrennbare Zusammenhang von Leben und Sterben, klingt auch aus den Worten des christlichen Mystikers Angelus Silesius: Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt. Denn das Alte muss sterben, damit die Zukunft entstehen kann. Was wir als Fähigkeit und Potential in unser Erdenleben mitbringen, welkt unvermeidlich dahin, damit neue Möglichkeiten zutage treten können - die Schnittstelle der Brüder Jupiter und Pluto. Mit den Kräften der Jugend pflanzen wir den Samen, um Blüte und Frucht aber müssen wir zeitlebens ringen. Goethe, dessen Aszendent und Pluto im achten Tierkreiszeichen, im Skorpion, stehen, hat sich in seinem Drama Faust ein plutobetontes Alter ego geschaffen: Als Mensch von ungezähmter Leidenschaft folgt Faust hemmungslos dem Drang seiner Libido. Nicht nur in Goethes Drama offenbart sich das Herbstzeichen Skorpion der menschlichen Erfahrung als ein Schauplatz heftiger psychischer Konfrontation und intensiv- archaischer Emotionalität, weshalb die klassische Astrologie wohl auch Mars als den Herrscher im Skorpion ansah.

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Lichtträger in dunkler Zeit


Jupiter und Chiron als Herrscher im Schützen

Wir sollten erkennen, dass unser Leben eine Phase im Prozess der menschlichen Entwicklung darstellt.
Wenn wir uns mit unseren persönlichen Problemen beschäftigen, entgeht unserem Bewusstsein oft,
dass deren eigentlicher Hintergrund unsere Aufgabe ist, die entwicklungsgemäßen Herausforderungen
unserer Zeit auf konkrete und individuelle Weise in den Brennpunkt zu bringen
.
Dane Rudhyar

Richard Tarnas Einwand gegen die voreilige Benennung des Planeten Uranus belegt eindrucksvoll, wie wichtig profunde mythologische Kenntnisse für Astrologen sind. [1] In einer Zeit, in der die Astrologie mit einer beinahe inflationär anmutenden Erweiterung ihrer Deutungsfaktoren konfrontiert wird, deren symbolischer Umfang und analoge Bedeutung noch unzureichend erforscht sind, scheint eine Rückbesinnung auf ihr mythologisches Fundament geraten. Ignoriert man die Erfahrung der Fehlbenennung des Planeten Uranus, könnten in Zukunft ähnliche Diskussionen um die Berechtigung der Namen der Kleinplaneten folgen. Im Moment basiert Chirons symbolische Bedeutung auf zwei Vorschlägen: einerseits auf seinem Bahnverlauf zwischen Saturn und Uranus, aufgefasst als Pontifax zwischen der körperlich-materiellen Sphäre Saturns und der geistig-immateriellen des Uranus. Andererseits hat sich die Diskussion auf Chirons Rolle als verletzter Heiler konzentriert. [2]
Über beide Auffassungen läßt sich trefflich streiten, vor allem aber hinsichtlich der Reduktion des mythologischen Chirons auf seine Verwundung und deren Konsequenzen für seinen Lebenslauf. Die Antwort auf die Frage, welchem Tierkreiszeichen Chiron zugeordnet werden muss, wurde bisher noch nicht entschieden, [3] obwohl die mit Chiron verbundene Symbolik, Mythologie und Ikonographie unzweideutig ist. Befragt man zu diesem Zweck die mythischen Erzählungen, stößt man auf eine Beziehung zwischen Zeus (Jupiter) und Chiron, die die zentralen Aspekte der Chiron-Mythologie darstellt: Chiron als Alter ego des Zeus, seine an Zeus gebundene Biographie und seine mit Zeus vergleichbare Funktion als Schamane, Lehrer und Wissenschaftler sowie die Aufgabe des Kentauren im Prometheus-Mythos, in dem Zeus und Chiron erneut zusammentreffen. [4] Zweifel an der Nähe Chirons zu Zeus-Jupiter und dem von ihm beherrschten Zeichen lassen sich, insbesondere mit Blick auf das alljährlich neu erfahrbare Phänomen der Schützequalität, leicht ausräumen. Für ihre Legitimation und für ihr Selbstverständnis benötigt die Astrologie eine genaue, und vor allem aber eine seriöse Kenntnis ihrer phänomenologischen und mythologischen Grundlagen; gleichzeitig gebührt ihr dabei das Verdienst, die Überlieferung der Mythen in lebendiger Anschaulichkeit zu garantieren. [5]

Donnerstag, 2. Februar 2017

Astrologie. Psychologie. Mythologie - Teil Vier


Das mythologische Bild beziehungsweise das astrologische Symbol wirkt von innen her als Ausdruck eines Verbundenheitserlebnisses von Mensch und Welt. Innerpsychische Energie und Lebendigkeit tritt erst dann ins Bewusstsein, wenn durch ein bestimmtes, kulturspezifisch geprägtes Erleben die Außenwelt als Bild im Inneren Wirklichkeit wird und auf die Außenwelt gestaltend zurückwirken kann. Der Mensch erschafft sich im Symbol seine eigene Wirklichkeit und erlebt durch das Sinnbild hindurch sein eigenes Selbst. Der Mythos spiegelt beides wider: innen und außen, die erlebte Welt und die von dieser Welt Besitz ergreifende Ich. Die astrologische Analyse verwendet Symbole beziehungsweise Ideogramme, die einerseits einprägsam sind, andererseits möglichst mit der Bedeutung und dem ideellen Inhalt des Deutungsfaktors korrespondieren. [42] Die Symbole der sieben klassischen Planeten - Sonne bis Saturn - haben die Jahrhunderte weitgehend unverändert überdauert. Die viel später entdeckten transsaturnischen Planeten - Uranus, Neptun und Pluto - oder die sogenannten Kleinplaneten - Chiron, Pholos und Ceres und andere - zu denen mittlerweile manche auch Pluto zählen, werden in ihrer symbolischen Bedeutung bereits akzeptiert, bevor gesicherte Daten und Erfahrungen vorliegen. Neu aufgenommene Deutungsfaktoren und neu vorgeschlagene Symbole bleiben in der Diskussion und werden sich - wie oben für Uranus angedeutet - erst allmählich in ihrer akzeptierten Bedeutung etablieren. [43] Die komplexen Horoskope, die Astrologen heutzutage verwenden, besitzen ausreichend Deutungsmöglichkeiten, sodass eine vorschnelle Erweiterung nicht dringend erforderlich ist.