Das mythologische Fundament der Astrologie ist ein doppeltes und eng an die historischen und kulturellen Bedingungen gebunden, die mit den indoeuropäischen Migrationen seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend in Europa begannen. Im Verlauf dieser Völkerwanderungen nach Europa entstand die Zivilisation und Mythologie der Kelten in Westeuropa, die der Griechen in Südeuropa und zuletzt die der Germanen in Nord- und Mitteleuropa aus der Synthese vorgefundener und importierter religiöser und philosophischer Vorstellungen. In diesen Schmelztiegel der Kulturen und Überzeugungen geriet die von den handeltreibenden Bevölkerungen der Ägäis aus dem Vorderen Orient nach Europa eingeführte Astrologie, bildeten sich die kulturspezifischen mythologischen Quellen, aus denen die Astrologie im Bemühen um ein Verständnis des Menschen bis heute schöpft. Die Symbolik der modernen Astrologie, die im antiken Griechenland ihre erste, im europäischen Mittelalter eine zweite Transformation und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre dritte Veränderung auf europäischem und angloamerikanischen Boden erfuhr, entstand ihr Symbolsystem ganz in Abhängigkeit von diesen orientalischen und indoeuropäischen Traditionen. Die Griechen waren die ersten, die die für eine Rezeption in einer anderen kulturellen Umgebung und Sprache notwendigen Korrekturen der Symbole, ihrer Bedeutung und des erforderlichen klassifikatorischen Rahmens vornahmen. Von erheblichen astronomischen Verbesserungen einmal abgesehen, modifizierten die Griechen die übernommene orientalische Symbolik indoeuropäisch. Die eingeführten Neuerungen und Veränderungen bezogen sich auch auf die Namen der Tierkreiszeichen und Planeten, die der griechisch-römischen Mythologie entnommen wurden, einer Variante der eurasischen Mythologien der Indoeuropäer, zu denen die Griechen, Kelten, Römer, Inder und Germanen gehören. Wie das Alphabet von den Phöniziern, übernahmen die Griechen die Astrologie der Babylonier und Ägypter und gaben ihr die im wesentlichen noch immer gültige Form. Gleichzeitig formulierte das antike Griechenland erstmals Zweifel an der Gültigkeit der zentralen These babylonischer Astrologie, dass die Götter mit den Vorgängen am Himmel den Menschen ein Zeichen geben wollten. Was dem Astrologen Babylons als Omen galt, so die Erkenntnis griechischer astronomischer Beobachtung und Philosophie, folgte vorausberechenbaren planetaren Bewegungen und Zyklen. Schon Platon entzog der in der heutigen Vulgärastrologie noch vertretenen Meinung den Boden, dass die Astrologie verlässliche Omendeutung sei. [21] Im zweiten Jahrhundert rehabilitierte dann Claudius Ptolemäus die Astrologie, präsentierte ein überarbeitetes Symbolsystem, das er im Tetrabiblos als eine Krone des Menschengeschlechts und ihre ehrwürdige Weisheit als ein Zeugnis Gottes [22] preist. Er leitet so zur klassischen Astrologie des Mittelalters über, die im 20. Jahrhundert durch die ausführliche Revision von Thomas Ring in ihre moderne Form als psychologisch basiere Astrologie überführt wurde. [23]
Ziel dieser Modernisierung der Astrologie war ihre Überarbeitung und Bereicherung durch psychologische Theorien, Diagnostik und Methodik, insbesondere der psychoanalytischen Schule C.G. Jungs, der analytischen Psychologie. Ein Nachteil der Ringchen Revision ist die weitgehende Suspendierung der Mythologie aus der modernen Astrologie, ganz im Gegensatz zu deren Position in der klassischen Astrologie. Ihre Relevanz für das symbolische System Astrologie ist dadurch aber nicht überholt. Ohne eine Verbindung der astrologischen Theorie mit ihrer mythologischen Basis verliert sie eine ihrer wesentlichen Qualitäten. Die Möglichkeit von Bildentwürfen, die viel von der eigenen Person enthalten, führt zu der Erfahrung in der eigenen Phantasie selbst etwas bewegen zu können, nicht allein von äußeren Eindrücken abhängig zu sein. Die im Mythos gestalteten Bilder entfalten den Schritt von der Phantasie in das Handeln in der äußeren Wirklichkeit. [24] Im Spannungsfeld von innerpsychischem Erleben und Weltfaktor entstehen Mythen als Reflex der Grenzerfahrung einer inneren Welt der Archetypen in Bezug auf eine bestimmte kulturelle naturräumliche Erfahrung der äußeren Realität – einer Welt der Partialsubjekte beziehungsweise innerer und äußerer repräsentativer Objekte, wobei die Kategorie, der ein bestimmtes Objekt angehört, nicht immer eindeutig auszumachen ist. Im gestaltgewordenen Mythos offenbart sich dem Menschen sein Erwachen an der eigenen Grenze. Im Erleben dieser Grenze zwischen innen und außen wird die antwortende Kraft der Seele mobilisiert, die sich ihren Ausdruck im mythischen Bild sucht. [25] Die Mythologie bildet eine Orientierungshilfe im Lebenslauf, indem sie die menschliche Persönlichkeit in ihren Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnissen und in ihrer Abhängigkeit von alltäglicher Lebenswelt und kultureller Umgebung sinnhaft beschreibt und analysiert. Die griechische, die keltische, die germanische oder die indische Mythologie haben bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren. Ihre mythischen Bilder knüpfen - jenseits rationaler und intellektueller Spekulation - am unmittelbarsten an die Beirrungen und Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz an. In dieser Situation geben sie dem einzelnen Halt und Orientierung, da sie sich auf unmittelbar spürbare und erfahrbare Phänomene beziehen, und diese in ein nachvollziehbares, symbolisches und mythologisches Sprachkostüm kleiden. Liz Greene hat immer wieder daran erinnert, dass die moderne Astrologie eine Möglichkeit bietet, der rational-linearen Einbahstraße zu entkommen, indem sie die mythischen Bilder und Erzählungen erneut als dynamische Entwicklungsgeschichten auffasst, als Landklarten grundlegender Paradigmen menschlichen Verhaltens und Erfahrens. In ihren Vorträgen demonstriert sie wie man die Interpretation von Geburtshoroskopen durch Mythen erweitern kann:
Ich bin davon überzeugt, daß man als Astrologe die astrologische Symbolik nicht aus dem größeren Umfeld der Mythen und Märchen herauslösen kann. Astrologie ist kein isoliertes Gebiet, das für sich dasteht. Um ein astrologisches Symbol zu verstehen, können wir uns ihm ebenso gut durch den Mythos nähern, wie wir es analytisch deuten können. [26]
Mythen und Märchen repräsentieren Urformen menschlicher Erfahrung; darin besteht ihre unvergängliche Lebendigkeit und Faszination. Und weil in Mythen und Märchen eingeschmolzene Archetypen Atmosphären und Konzeptionalisierungen von naturräumlichen Ergriffenheitserfahrungen darstellen – und nicht etwa, weil sie Ergebnis von Migrationen sind - haben sich vergleichbare Mythen zu allen Zeiten und in allen Kulturen verbreitet.
Anmerkungen
[21] Wilhelm Knappich, Geschichte der Astrologie, Frankfurt a.M., 1967:9.
[22] Vgl. Knappich, Geschichte, S.193 und Claudius Ptolemaeus, Tetrabiblos. Nach der von Philipp Melanchthon besorgten seltenen Ausgabe aus dem Jahre 1533, Mössingen, 1995.
[23] Thomas Ring, Astrologische Menschenkunde, Bd.1: Kräfte und Kräftebeziehungen, Freiburg i.Br., 1990; Bd.2: Ausdruck und Richtung der Kräfte, Freiburg i.Br., 1994; Bd.3: Kombinationslehre, Freiburg i.Br., 1994; Bd.4: Das lebende Modell, Freiburg i.Br., 1994. Diese Systematisierung der Astrologie durch Thomas Ring und ihre Darstellung als psychologische Disziplin, eine bedeutsame theoretische Leistung, wurde von Olga von Ungern-Sternberg (v.a. Die inner-seelische Erfahrungswelt am Bilde der Astrologie, 1928) aus ihrer psychoanalytischen, praxisorientierten Erfahrungen vorweggenommen und von Fritz Riemann (v.a. Lebenshilfe Astrologie, 1976) durch eigene psychoanalytische Therapien weiter verifiziert.
[24] Das mythische Bild positioniert sich als Bindeglied zwischen den eigenen Handlungsentwurf, der in der Phantasie kreativ vorweggenommen werden kann, und dessen Konkretion im Lebensalltag. Das Bild ist die originäre Schnittstelle der Phantasie als innere Wirklichkeit mit der Welt der äußeren Bedingungen und Voraussetzungen (Jardner, Odysseus, Kassandra und der Heilige Geist, veröffentlicht in Vingilot).
[25] Im Mythos kommt das Lebendige im Menschen erst im Zusammentreffen mit einer bestimmten, das Innere zum Erwachen bringenden Außenwelt zum Bewusstsein (vgl. auch von Ungern-Sternberg, Die inner-seelische Erfahrungswelt, S.24 und S.31).
[26] Liz Greene, Der Mythos der individuellen Reise, in: Liz Greene und Stephan Arroyo, Saturn und Jupiter. Neue Aspekte der astrologischen Praxis, München, 1996.
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